Gerichtsentscheidung: Strafrecht



§ 112a StPO

Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr

Landgericht Kassel
4. Strafkammer
Beschluß vom 13.05.2011, 4 Qs 17/11


In der Strafsache

gegen Herrn X,

Verteidiger: Rechtsanwalt Frank Löwenstein, Baunatal

wegen: Verdachts der Vergewaltigung

hat die 4. große Strafkammer des Landgerichts Kassel als Beschwerdekammer in Jugendstrafsachen auf die Beschwerde des Beschuldigten gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Kassel vom 24.03.2011 in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses vom 27.04.2011 am 13.05.2011 beschlossen:

    Auf die Haftbeschwerde des Beschuldigten wird der. Haftbefehl des Amtsgerichts Kassel vom 24.03.2011 aufgehoben.

    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens' sowie die dem Beschuldigten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.


Gründe:

Die vorliegende Haftbeschwerde ist zulässig und begründet.

Die Beschwerde ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässig. Sie richtet sich gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Kassel vom 24.03.2011 in Gestalt des nach mündlichem Haftprüfungstermin vom 21.04.2011 ergangenen Haftfortdauerbeschlusses des Amtsgerichts vom 27.04.2011.

Die Beschwerde ist auch begründet.

Zwar ist dringender Tatverdacht anzunehmen. [...]

Es fehlt jedoch an einem tragfähigen Haftgrund.

Der vom Amtsgericht Kassel angenommene Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112 a Abs. 1 Nr. 1 StPO ist nicht gegeben. Es kann dahingestellt bleiben, ob § 112 a Abs. 1 Nr. 1 StPO bei Jugendlichen unter denselben Voraussetzungen wie im allgemeinen Strafrecht Anwendung findet. Bereits nach den allgemeinen Grundsätzen können die Voraussetzungen dieser Vorschrift nämlich nicht bejaht werden.

Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main muss die Wiederholungsgefahr durch bestimmte Tatsachen begründet werden, die eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Straftaten erkennen lassen, dass die Gefahr besteht, er werde gleichartige Taten wie die Anlasstat bis zur rechtskräftigen Verurteilung begehen. Diese Gefahrenprognose erfordert eine hohe Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung strafbaren Verhaltens. Insoweit sind bestimmte Indiztatsachen zu berücksichtigen und zu würdigen, die entsprechende Schlussfolgerungen gestatten, wie z.B. Vorstrafen des Beschuldigten, seine Persönlichkeitsstruktur, seine gesamten Lebensverhältnisse und anderes (vgl. Beschluss des 1. Strafsenats des OLG Frankfurt am Main vom 07.05.2010, Az. 1 HEs 30/10, zitiert nach Juris; abgedruckt in StV 2010, 583-585 m.w.N.). Die für die Wiederholungsgefahr geforderte hohe Wahrscheinlichkeit erneuter Taten lässt sich nur schwer begründen, wenn es an einer Vorverurteilung wegen eines gleichgelagerten schwerwiegenden Delikts fehlt (vgl. ebenda). Diese strengen Anforderungen an den Haftgrund der Wiederholungsgefahr sind aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten. Die wegen Wiederholungsgefahr angeordnete Untersuchungshaft steht nämlich kein Mittel der Verfahrenssicherung dar, sondern eine vorbeugende Maßnahmen zum Schutz der Rechtsgemeinschaft von weiteren erheblichen Straftaten und ist somit präventiv-polizeilicher Natur (vgl. BVerfGE 19, 342).

Vorliegend liegt eine Vorverurteilung des Beschuldigten wegen eines gleich gelagerten schwerwiegenden Deliktes nicht vor. Zwar ist der Beschuldigte ausweislich der beigezogenen Akte StA Kassel 4650 Js 31797/08 bereits wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern aufgefallen. Er ließ sich als 15jähriger am 30.05.2008 von seinem fünfjährigen Cousin zweimal an den Penis fassen. Das Verfahren endete jedoch nicht mit einer Verurteilung, sondern mit einer Einstellung gern. §§ 45,47 JGG, nachdem der Beschuldigte der Auflage, Gespräche mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu führen, nachgekommen war. Insofern fehlt es bereits an einer einschlägigen Vorverurteilung, zumal selbst Vorverurteilungen zu jugendgerichtlichen Zuchtmitteln außer Betracht zu bleiben haben (vgl. MeyerGoßner, 53. Auflage, § 112 a StPO, Rn. 14).

Schon gar nicht kann das Verfahren StA Kassel 4640 Js 42870/10 - wie im Haftbefehl geschehen - zur Begründung von Wiederholungsgefahr herangezogen werden. Verfahrensgegenstand war insofern der Diebstahl einer Milchflasche durch den Beschuldigten, so dass weder ein schwerwiegendes noch ein gleich gelagertes Delikt gegeben ist. Am Rande sei in diesem Zusammenhang bemerkt, dass diese Tat zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftbefehls am 24.63.2011 nicht wie im Haftbefehl dargestellt lediglich angeklagt war, sondern durch die auch vorliegend zuständige Abteilung 233 des Amtsgerichts Kassel bereits am 08.03.2011 abgeurteilt worden war.

Aus der Persönlichkeitsstruktur des Beschuldigten sowie aus seinen Lebensverhältnissen oder aus anderen Umständen lässt sich der Haftgrund der Wiederholungsgefahr ebenfalls nicht begründen. Eine hohe Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung strafbaren Handelns kann hieraus nicht angenommen werden. Der Beschuldigte ist Schüler, geht einem Nebenjob nach und wohnt noch im Haushalt seiner Mutter. Dies alles sind Aspekte, die auf geordnete Lebensverhältnisse des Beschuldigten schließen lassen. Sie dürften weiteren einschlägigen Taten eher entgegenstehen.

Im besonderen Maße spricht gegen eine hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung neuerlicher Straftaten, dass der Beschuldigte in der Zeit zwischen der Tatbegehung am 11.12.2010 und seiner Festnahme am 24.03.2011, also über einen Zeitraum von mehr als 3 Monaten, strafrechtlich nicht weiter auffällig geworden ist. Andere Haftgründe gemäß § 112 StPO sind ebenso nicht ersichtlich. Insbesondere ist aufgrund der geschilderten Lebensumstände des Beschuldigten Fluchtgefahr nicht anzunehmen.

Nach alledem war der Haftbefehl auf Kosten der Staatskasse aufzuheben


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