Gerichtsentscheidung: Strafvollstreckungsrecht



§§ 57, 57a StGB, § 454 StPO

Reststrafenaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe

Oberlandesgericht Frankfurt am Main
3. Strafsenat
Beschluß vom 21.09.2010, 3 Ws 734/10


In der Strafvollstreckungssache

gegen Herrn X
Verteidiger: Rechtsanwalt Frank Löwenstein, 34225 Baunatal
wegen: Mordes
hier: Aussetzung der Reststrafe

hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main am 21. September 2010 beschlossen:

    Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Kassel (Strafvollstreckungskammer) vom 7. Juli 2010 aufgehoben.

Gründe:

Der Verurteilte wurde vom Landgericht Kassel am 3. Juni 1996 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Eine besondere Schuldschwere wurde nicht angenommen. 15 Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe sind seit dem 26. August 2010 verbüßt. Die gewährten Lockerungen hat der Verurteilte beanstandungsfrei bewältigt. Die Strafvollstreckungskammer hat den Antrag auf Aussetzung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe zurückgewiesen. Sie folgt dabei der Einschätzung der JVA, die nach Einholung zweier Ergänzungsgutachten in der zweiten Jahreshälfte 2009 zur Vertretbarkeit von Vollzugslockerungen eine weitere Erprobung des Verurteilten im offenen Vollzug für erforderlich hält, idealerweise in Verbindung mit der Schaffung eines beruflichen Umfeldes, welches die Gefahr "halbseidener" bis illegaler Verlockungen weitgehend ausschließt. Ein eigenes Gutachten hat die Kammer nicht eingeholt. Eine mündliche Anhörung der Sachverständigen ist nicht erfolgt. Der Verurteilte macht mit der sofortigen Beschwerde geltend, die Versagung der Reststrafenaussetzung sei verfahrensfehlerhaft zustande kommen. Außerdem könne die Aussetzung der Vollstreckung unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit verantwortet werden.

Das gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1, 311 StPO zulässige Rechtsmittel führt zu einem vorläufigen Erfolg. Die Entscheidung der Kammer beruht auf einer unzureichenden richterlichen Sachaufklärung.

Die Kammer hat die bedingte Entlassung des Verurteilten nicht erwogen, so dass sie grundsätzlich nicht nach § 454 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO verpflichtet war, das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten einzuholen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. 3 Ws 1172-1173/01 m.w.N. sowie Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 454 Rdn. 12b) ist eine Begutachtung gemäß § 454 Abs.2 StPO aber auch dann geboten, wenn hinreichender Anlass besteht,. die Reststrafenaussetzung zu erwägen. Das ist hier der Fall. Gemäß § 57a Abs. 1 StGB setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn - abgesehen von den hier zweifellos gegebenen Umständen die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB vorliegen, d.h. die Aussetzung des Strafrestes unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Für diese Prognose kommt es grundsätzlich nicht auf die Art und das Gewicht der von dem Verurteilten zu erwartenden neuen Delikte an. Etwas anderes gilt aber bei Tätern, die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Zu einer zeitigen Freiheitsstrafe Verurteilte, werden nach vollständiger Vollstreckung der Strafe ohne Rücksicht auf die Prognose entlassen. Bei lebenslanger Freiheitsstrafe besteht diese Möglichkeit nicht. Die den Verurteilten naturgemäß stark belastende lebenslange Strafe findet ihre Rechtfertigung in der besonders hohen Wertschätzung des Lebens durch die Rechtsordnung und dem ihr entsprechenden gesteigerten Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit, auf das auch bei der Entscheidung über den weiteren Vollzug der Strafe abzustellen ist. Das Übermaßverbot verlangt, dass das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Verurteilten und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor unter Umständen zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen zu einem gerechten und vertretbaren Ausgleich gebracht wird. In Fällen des Vollzugs lebenslanger Freiheitsstrafen ist deshalb bei der Täterprognose nur die Gefahr erneuter schwerer Gewaltdelikte oder ähnlich schwerwiegender Verfehlungen des Verurteilten zu berücksichtigen. Die Gefahr der Begehung von Straftaten nur mittleren oder geringeren Gewichts hindern die Aussetzung der Reststrafe dagegen nicht. (vgl. KG, NStZ-RR 1997,382; OLG Nürnberg, StV 2000,266). In diese Richtung weist auch die. Regelung in § 454 Abs.2 StPO. Das danach einzuholende Gutachten hat sich nämlich insbesondere zu der Frage zu äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass gerade dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht.

Die Gefahr erneuter schwerer Gewaltdelikte erscheint hier zweifelhaft. Nach dem Ergänzungsgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. ist es kriminalprognostisch sehr unwahrscheinlich, dass der Verurteilte erneut eine schwere Gewalttat begehen wird, weil er auf jeden Fall seine Straflektion gelernt haben dürfte. Ebensowenig sei wahrscheinlich, dass er im Rahmen von Lockerungen bis hin zu Urlauben erneute mittelschwere Straftaten begehen werde, weil er aus taktischen Gründen sicherlich zurückstecken und vorsichtig sein werde. Für die Zeit nach der Entlassung könne mittelfristig jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass der Verurteilte doch der Versuchung nachgeben werde, von grenzlegalen zu halblegalen und schließlich zu illegalen Geschäften überzugehen, sei es im Autohandel, sei es im Handel mit anderen Materialien. Auch der Sachverständige Prof. Dr. E. schätzt die Wahrscheinlichkeit einer erneuten vergleichbar schweren Straftat (Tötungsverbrechen) grundsätzlich als sehr gering ein, bejaht aber das Risiko zumindest teilweiser illegaler Geschäfte. Bei dieser Sach- und Rechtslage hatte die Kammer hinreichend Anlass, die Reststrafenaussetzung zu erwägen. Wenn sie kein neues Gutachten einholen wollte, hätte sie die vorliegenden Lockerungsgutachten - die sich auch zur Legalprognose verhalten - als Gutachten im Sinne von § 454 Abs.2 StPO ansehen und die Sachverständigen mündlich hören müssen.


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