Gerichtsentscheidung: Strafvollstreckungsrecht



§ 140 Abs. 2 StPO, § 67e StGB

Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Überprüfungsverfahren nach § 67e StGB,
Anhörungspflicht.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main
3. Strafsenat
Beschluß vom 19.03.2010, 3 Ws 230/10


In der Strafvollstreckungssache

gegen Herrn X

Verteidiger: Rechtsanwalt Löwenstein, Baunatal,

hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die Beschwerde des Untergebrachten gegen den Beschluss des Vorsitzenden der 4. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel vom 25.02.2010 am 19.03.2010 beschlossen:

    Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

    Dem Untergebrachten wird Frank Löwenstein, Altenritter Straße 9, 34225 Baunatal, als Pflichtverteidiger für die anstehende Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung beigeordnet.

    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Untergebrachten hat die Staatskasse zu tragen.

G r ü n d e :

Mit Beschluss vom 25.02.2010 hat der Kammervorsitzende den Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt Löwenstein als Pflichtverteidiger zurückgewiesen mit der Begründung, die Sach- und Rechtslage sei nicht schwierig, zudem sei mangels entsprechender Anhaltspunkte davon auszugehen, dass der Untergebrachte sich selbst verteidigen könne. Die einfache Beschwerde des Untergebrachten (§ 304 Abs. 1 StPO) gegen diesen Beschluss des Kammervorsitzenden ist zulässig und auch begründet.

Im Vollstreckungsverfahren ist in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO dem Verurteilten ein Verteidiger zu bestellen, wenn, die Sach- oder Rechtslage schwierig oder wenn sonst ersichtlich ist; dass sich der Verurteilte nicht selbst verteidigen kann oder wenn die Entscheidung von besonders hohem Gewicht ist. Dabei sind, worauf der Vorsitzende zu Recht hinweist, die bei der Regelüberprüfung gemäß § 67 e StGB anstehenden tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen grundsätzlich nicht derart kompliziert, dass sie per se die Bestellung eines Pflichtverteidigers gebieten, was sich der Entscheidung des Gesetzgebers ernehmen lässt, nur für das Verfahren nach § 463 Abs. 3, S. 4 StPO und bei der Regelüberprüfung nach fünfjähriger Unterbringungsdauer (§ 463 Abs. 4, S. 1 StPO) die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorzuschreiben. Es ist vielmehr jeweils im konkreten Fall festzustellen, ob das Überprüfungsverfahren besondere Schwierigkeiten aufweist, die die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erfordern (Beschluss des Senats vom 10.03.2009, 3 Ws 205/09).

Vorliegend ist davon ausgehend nach Auffassung des Senats ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben, da erhebliche Zweifel daran bestehen, ob der Untergebrachte der deutschen Sprache soweit mächtig ist, dass er in der Lage ist, seine Interessen in der Frage der Fortdauer der Unterbringung in ausreichendem Umfang zu vertreten. Erhebliche Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung reichen insoweit aus (Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 140, Rn 30 m.w.N.; LG Schweinfurt, Beschl. v. 30.01.09, 1 Qs 11/09).

Nach der Stellungnahme der Klinik für forensische Psychiatrie vom 03.03.2009 kann der Untergebrachte inzwischen "recht gut" lesen, sein Schreibvermögen wird allerdings nur als gering beschrieben. In der Stellungnahme vom 17.02.2010 wird davon berichtet, dass die Arbeitsergebnisse in der Arbeitstherapie zwar annehmbar seien, die sprachliche Verständigung aber Schwierigkeiten mache. Danach kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass der Untergebrachte in der Lage ist, die Stellungnahme der Klinik mit ihren medizinischen Fachbegriffen zu verstehen. Erst recht kann nicht davon ausgegangen werden, dass es ihm möglich ist, sich dazu schriftlich zu äußern. In dem angefochtenen Beschluss wird zwar darauf hingewiesen, dass dem Untergebrachten die sachverständige Beurteilung der Klinik vom 17.02.2010 ggf. in einem Anhörungstermin bekannt gegeben und sachverständig erläutert werden könne. Allerdings ist aus der Verfügung vom 25.02.2010 ersichtlich, dass die Kammer von sich aus nicht beabsichtigt, den Untergebrachten vor Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung mündlich anzuhören. Sie hat vielmehr unter Zusendung einer Kopie der Stellungnahme der Klinik lediglich Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben und gebeten, schriftlich mitzuteilen, ob zusätzlich auf einer persönlichen Anhörung durch das Gericht bestanden wird. Vor diesem Hintergrund ist die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich. Dem Untergebrachten muss vor Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung die Möglichkeit gegeben werden, sich zu äußern, wie sich auch ausdrücklich aus §§ 463 Abs. 3, 454 Abs. 1, S. 3 StPO ergibt. Es reicht nicht aus, dass er, wie in der Nichtabhilfeentscheidung vom 02.03.2010 dargelegt, sich jedenfalls soweit mündlich verständigen kann, dass ihm eine Einlegung von Rechtsmitteln zu Protokoll der Geschäftsstelle möglich ist, er sich also hinterher gegen einen für ihn nach seiner Auffassung nachteiligen Beschluss zur Wehr setzen kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung der §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 3 StPO.


Anmerkungen:

Zum Zeitpunkt der hier ergangenen Entscheidung ist der Betroffene aufgrund seiner Drogenabhängigkeit seit fast zwei Jahren in einer Entziehungsanstalt untergebracht. Er ist staatenlos, hat nie eine Schule besucht und ist - wie in den Gerichtsakten dokumentiert - Analphabet. Der zuständige Richter hatte im Rahmen nach halbjährigen Überprüfung der Maßnahme nach §§ 67d, 67e StGB vor der hier ergangenen Entscheidung bereits dreimal die Fortdauer der Unterbringung beschlossen. In keinem Fall hat der Richter den Betroffenen persönlich angehört. Das Landgericht Kassel bedient sich zur Vorbereitung der Überprüfungsentscheidung eines vorgefertigen Formulars. Der Untergebrachte erhält Gelegenheit, schriftlich zu der Fortdauer der Unterbringung Stellung zu nehmen, wobei ihm bereits vor seiner Äußerung das voraussichtliche Ergebnis der Überprüfung mitgeteilt wird: nämlich, daß das Gericht beabsichtige, dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu entsprechen und die Fortdauer der Unterbringung zu beschließen. Ob die Untergebrachten - regelmäßig suchtkranke oder psychisch kranke Menschen - intellektuell oder im Hinblick auf ihre Lese- und Schreibfertigkeiten überhaupt in der Lage sind, das Anschreiben des Gerichts zu verstehen, berücksichtigt die Strafvollstreckungskammer nicht.

Fast schon abwehrend heißt im letzten Satz der Verfügung, der Unterbrachte möge es schriftlich mitteilen, wenn er "zusätzlich" - also neben der schriftlichen Äußerung - auf eine Anhörung "bestehe". Der Sinn dieser Aufforderung erschließt sich im Hinblick auf die Haltung der Kammer, wonach eine mündliche Anhörung auch auf Antrag des Betroffenen nicht durchzuführen sei, nicht. Ein Pflichtverteidiger wird den Betroffenen von Amts wegen regelmäßig nicht beigeordnet, selbst wenn es sich bei dem Untergebrachten - wie vorliegend - um einen Analphabeten handelt. Im Gegenteil: als der mittellose Untergebrachte im vorliegenden Fall einen Verteidiger beauftragte und beantragte, ihm diesen als Pflichtverteidiger beizuordnen, wehrte sich das Gericht "mit Händen und Füßen". In einem mehrseitigen Beschluß wurde der Antrag zurückgewiesen, da kein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben sei. Auf den aktenkundigen Analphabetismus des Untergebrachten ging das Gericht nicht ein. Auf die Beschwerde des Betroffenen fertigte das Gericht einen ausführlichen Nichtabhilfebeschluß, mit dem es versuchte zu begründen, weshalb der Untergebrachte trotz seines Analphabetismus in der Lage sei, sich selbst zu verteidigen. Die Kammer hielt dem Untergebrachte entgegen, er könne sich, wenn er etwas zu sagen habe, zu Protokoll des Gerichts erklären - nicht berücksichtigend, daß die Entziehungsanstalt 14 bzw. 25 Kilometer von den nächsten beiden Amtsgerichten entfernt liegt und keine Sonderfahrten für Insassen organisiert werden können, die sich gegenüber dem Gericht erklären möchten.

Nach § 463 Abs. 1 StPO gelten die Vorschriften über die Strafvollstreckung für die Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung sinngemäß. Danach gilt § 454 Abs. 1 StPO, der in seinem Satz 3 die mündliche Anhörung für zwingend erklärt, auch für das Verfahren nach § 67e Abs. 2 StGB. Zwar ist § 67e StGB nicht ausdrücklich in § 463 Abs. 3 StGB genannt, der auf § 454 Abs. 1 StPO und mithin auf die Anhörungspflicht verweist. Allerdings nennt § 463 Abs. 3 StPO die Vorschrift des § 67d Abs. 2 und 3 StGB. Dogmatisch stellt die Vorschrift des § 67e Abs. 1, Abs. 2 StGB aber lediglich eine verfahrensmäßige Ergänzung des § 67d Abs. 2 dar (Veh/Groß in: Münchener Kommentar zum StGB, § 67e Rn. 1). Deshalb gilt über § 463 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 StPO die Anhörungspflicht des § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO auch für die Entscheidung über die weitere Vollstreckung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

Folgerichtig gehen von einer Anhörungspflicht daher aus:

Das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) meint, daß bei allen Formen der Unterbringung im Rahmen der regelmäßigen Überprüfung nach § 67e StGB der Betroffene "in aller Regel" persönlich anzuhören ist (§§ 463 Abs. 1, 454 Abs. 1 StPO).

Dabei kommt es nicht darauf an, ob die mündliche Anhörung aus Sicht des Gerichts sinnvoll ist, ob der Untergebrachte im Vorfeld Einwendungen gegen die Stellungnahme der Anstalt vorgebracht hat, ob der Sachverhalt unstreitig ist oder ob das Gericht mit anderen Verfahren erheblich belastet ist. Vielmehr dient die mündliche Anhörung im Verfahren nach §§ 67d Abs. 2, 67e StGB dazu, dem Gericht einen persönlichen Eindruck von dem Untergebrachten zu vermitteln (OLG Düsseldorf, NJW 2002, 2963, 2965; vgl. auch BVerfG, Beschluß vom 16.11.2004, 2 BvR 2004/04 und BGHSt 28, 138, 141; BT-Drs. 7,550, S. 309; BGH, NStZ 1995, 610; OLG Celle, StV 1988, 259; OLG Schleswig, NJW 1975, 1131). Die Strafvollstreckungskammer darf sich nicht ausschließlich auf die Beurteilung durch die Anstalt verlassen, ohne den Betroffenen, über dessen Freiheit entschieden wird, wenigstens einmal im Laufe des Unterbringungsverfahrens persönlich kennengelernt zu haben.

Ausnahmen sollen nur gelten, wenn die letzte Anhörung noch nicht lange zurückliegt und der persönliche Eindruck dieser Anhörung noch fortwirkt und nicht der Ergänzung bedarf (so z.B. OLG Düsseldorf, NStZ 1981, 437; OLG Stuttgart, Justiz 175, 478) oder der Untergebrachte sicher einer Anhörung verweigert (OLG Düsseldorf vom 28.07.1987, 1 Ws 428/87 = NStZ 1987, 524). Im vorliegenden Fall hatte das Landgericht bereits dreimal, nämlich mit Beschlüssen vom 02.10.2008, 13.03.2009 und 14.09.2009 die Fortdauer der Unterbringung überprüft, den Untergebrachten aber in keinem Fall persönlich angehört. Dem zur Entscheidung berufenen Richter war der Untergebrachte auch nach rund zweijähriger Dauer der Unterbringung persönlich unbekannt.

Nunmehr weist auch das OLG Frankfurt in dem hier ergangenen Beschluß vom 19.03.2010 ausdrücklich und unter Verweis auf § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO darauf hin, daß der Unterbrachte die Möglichkeit haben muß, sich zu äußern. Das OLG erklärt damit - in Übereinstimmung mit den vorgenannten Entscheidungen anderer Gerichte - § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO für direkt anwendbar und die mündliche Anhörung für obligatorisch.

Das Landgericht Kassel zeigte sich hiervon unbeeindruckt und entschied ohne mündliche Anhörung (Beschluß vom 15.04.2010, 4 StVK 68/10), obgleich der Untergebrachte unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung mehrfach seine mündliche Anhörung beantragt hatte. Das persönliche Kennenlernen des Betroffenen, über dessen Freiheit das Gericht regelmäßig entscheidet, hielt die 4. Strafvollstreckungskammer indes für eine reine Förmelei.

Mag es auch zutreffen, daß die Entscheidung aufgrund des persönlichen Eindrucks nicht anders ausfiele, so will es der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht aus gutem Grund, daß der Richter, der über die Freiheit einer Person zu entscheiden hat, sich zuvor einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen verschafft, da anderenfalls die Gefahr besteht, daß der Betroffene zum reinen Objekt des Verfahrens wird. Die 4. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel zieht es jedoch vor, erhebliche Zeit und Energie in die Fertigung von Beschlüssen und Verfügungen zu investieren, in denen dem Betroffenen ausführlich auseinandergesetzt wird, weshalb man ihn nicht sehen will, statt sich auch nur fünf Minuten Zeit für eine persönliche Anhörung zu nehmen.

Auf die Beschwerde des Untergebrachten hob das Oberlandesgericht Frankfurt den Beschluß auf (Beschluß vom 25.05.2010, 3 Ws 445/10) und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Kassel zurück.

In einer Zwischenverfügung hatte der zuständige Richter der 4. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel darauf hingewiesen, er könne schon aus zeitlichen Gründen keine mündlichen Anhörungen durchführen. Schließlich sei er neben seinen übrigen Verpflichtungen für die gesamte forensische Klinik zuständig. Sollte man die Stellungnahme als einen Hinweis auf einen systematischen Verzicht auf Anhörungen verstehen dürfen, wäre das im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 24.06.2009, 1 StR 201/09, eine problematische Haltung.


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