Gerichtsentscheidung: Strafrecht



Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG

Zur Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Totschlags über einen Zeitraum von mehr als 26 Jahren bei einem schwerstkranken Gefangenen.

Bundesverfassungsgericht
Beschluß vom 29.05.2008, 2 BvR 1968/07

I. Sachverhalt:

Dem Beschwerdeführer ist mit den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen die Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung zum wiederholten Male versagt worden.

Der 1957 geborene Beschwerdeführer befindet sich seit 1981 in Haft. Mit Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 24.11.1983 ist er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Totschlags in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung verurteilt worden. Seit Rechtskraft des Urteils befindet er sich im geschlossenen Vollzug. Seit 1988 Jahren ist er Patient der Dauerkrankenstation. Er leidet seit 1985 unter einer degenerativ-entzündlichen Gefäßerkrankung, die bereits zur Amputation mehrerer Glieder geführt hat. Seit 1992 ist er HIV-infiziert. Seine Lebenserwartung ist nach Meinung der behandelnden Ärzte auf das 6. Lebensjahrzehnt beschränkt.

Lockerungen jeder Art sind dem Beschwerdeführer in den knapp drei Jahrzehnten seiner Haft bislang versagt worden. Selbst eine begleitete Ausführung außerhalb der Gefängnismauern ist dem schwerkranken Beschwerdeführer bislang nicht gewährt worden.

Bereits nach rund fünfjähriger Vollstreckungsdauer erhob der Leiter der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt gegenüber der Staatsanwaltschaft beim dem Landgericht Frankfurt am Main mit Schreiben vom 05.08.1986 Bedenken dagegen, im Rahmen des § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB eine besondere Schwere der Schuld zu berücksichtigen und die Freiheitsstrafe über 15 Jahre hinaus zu vollstrecken.

Zwei von den behandelnden Ärzten im Hinblick auf den schlechten Gesundheitszustand und die begrenzte Lebenserwartung unterstützte Gnadengesuche sind durch den damaligen Ministerpräsidenten des Landes Hessen in den 90er Jahren zurückgewiesen worden.

Die Mindestverbüßungsdauer ist mit Beschluß des Landgerichts Kassel vom 19.11.1996 auf 17 Jahre und sechs Monate festgesetzt worden. Diese waren am 13.11.1999 verbüßt. Die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung war vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde bereits viermal (1996, 2001, 2003, 2007) abgelehnt worden.

Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, daß die angegriffenen Entscheidungen den jüngsten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 08.11.2006, 2 BvR 578/02 - 2 BvR 796/02; NJW 2007, 1933) nicht gerecht werden.

Seine Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg.


II. Wortlaut der Entscheidung:


In dem Verfahren

über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 3. August 2007 - 3 Ws 700/07 - ,

b) den Beschluß des Landgerichts Kassel vom 26. Juni 2007 - 4 StV 381/06 -

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Voßkuhle, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 29. Mai 2008 einstimmig beschlossen:

    Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93 Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg; denn sie ist offensichtlich unbegründet.

1. a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe über den durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus aus Gründen der Gefährlichkeit des Straftäters weder die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) noch das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG). Für den besonders intensiven Eingriff eines möglicherweise lebenslangen Freiheitsentzuges ergeben sich aber verfassungsrechtliche Grenzen insbesondere aus dem Übermaßverbot. Danach verlangt das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zur erwartenden erheblichen Rechtsgutsverletzungen nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Je länger der Freiheitsentzug andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges. Der nachhaltige Einfluß des gewichtiger werdenden Freiheitsanspruchs stößt jedoch dort an Grenzen, wo es im Blick auf die Art der von dem Betroffenen drohenden Gefahren, deren Bedeutung und Wahrscheinlichkeit vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Betroffenen in die Freiheit zu entlassen (BVerfGE 117, 71 <89, 97f.>; vgl. BVerfGE 70, 297 <315>; 109, 133 <159>).

Die Klausel von der Verantwortbarkeit der Vollstreckungsaussetzung "unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit" schließt es mit ein, daß ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird. Die Vertretbarkeit des Restrisikos ist dabei nicht allein von den im Falle eines Rückfalls bedrohten Rechtsgütern abhängig, sondern auch vom Grad der Wahrscheinlichkeit erneuter Straffälligkeit. Daher steht auch bei schweren Gewalt- oder Sexualdelikten die bloße theoretische Möglichkeit eines Rückfalls, die angesichts der Begrenztheit jeder Prognosemöglichkeit nie sicher auszuschließen ist, der Aussetzung nicht von vornherein entgegen. Vielmehr ist die Ablehnungsentscheidung durch konkrete Tatsachen zu belegen, die das Risiko als unvertretbar erscheinen lassen (BVerfGE 117, 71 <98>). Auf der anderen Seite verlangt die ihm Rahmen der Aussetzungsentscheidung zu treffende Prognose die Verantwortbarkeit der Aussetzung mit Rücksicht auf unter Umständen zu erwartende Rückfalltaten (vgl. BVerfGE 86, 288 <327>). Je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind, desto geringer muß das Rückfallrisiko sein. Bei Straftaten, die wie der Mord (§ 211 StGB) mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, kommt eine bedingte Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe nur unter strengen Voraussetzungen in Betracht. Bestehen irgendwelche konkreten Anhaltspunkte dafür, daß der Verurteilte ein neues schweres Verbrechen begehen werde, so kommt eine Aussetzung nicht in Betracht (BVerfGE 117, 71 <99>).

b) Ob im Einzelfall die weitere Vollstreckung einer rechtskräftigen ausgesprochenen Freiheitsstrafe nach § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung auszusetzen ist, ist zunächst eine Frage der Auslegung und Anwendung des Strafgesetzbuches und des Strafvollstreckungsrechts. Das Bundesverfassungsgericht prüft diese Entscheidung nicht in jeder Hinsicht nach. Es hat jedoch einzugreifen, wenn das zuständige Fachgericht bei der Sachverhaltsfeststellung und -würdigung die verfassungs-rechtliche Bedeutung und Tragweite der Menschenwürde oder der Freiheitsgarantie verkannt hat (vgl. BVerfG, Beschluß der Zweiten Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97 -, NStZ 1998, S. 373 <374>). Insbesondere müssen Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffend, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfGE 117, 71 <105>; vgl. BVerffGE 70, 297 <308>).

Demzufolge darf der Strafvollstreckungsrichter seine Entscheidung gemäß § 57 Abs. 1 StGB nicht alleine darauf stützen, daß die Vollzugsbehörde - etwa auf der Grundlage bloßer pauschaler Wertungen oder mit dem Hinweis auf eine abstrakte Flucht- oder Mißbrauchsgefahr - die Gewährung von Vollzugslockerungen zur Vorbereitung der Strafaussetzung versagt hat. er hat vielmehr eigenständig zu prüfen, ob die Strafaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Der Erprobung eines Strafgefangenen im Rahmen von Vollzugslockerungen kann hierbei als Indiz zwar eine erhebliche Bedeutung zukommen. Vollzugslockerungen sind jedoch von Rechts wegen nicht notwendigerweise Voraussetzung für eine bedingte Entlassung (BVerfG, Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2002 - 2 BvR 461/02 - , StV 2003, S. 677 f.; vgl. BVerfGE 117, 71 <108>).

2. Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen gerecht.

Der angewendete rechtliche Maßstab entspricht den verfassungsrechtlichen Vorgaben; zutreffend gehen die Entscheidungen davon aus, daß im Rahmen des Verfahrens nach § 57 Abs. 1 StGB nicht etwa die fortbestehende Gefährlichkeit des Häftlings bewiesen sein muß, sondern umgekehrt seine Ungefährlichkeit im Rahmen der angestellten Prognose hinriechend wahrscheinlich sein muß (vgl. BVerfGE 109, 133 <160 f.>; Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl. 2004, § 57 Rn. 12, 14).

Die Gerichte haben sich umfassend mit der Persönlichkeit des Beschwerdeführers auseinandergesetzt. Die Strafvollstreckungskammer hat als Grundlage für die von ihr zu treffende Gefährlichkeitsprognose ein Sachverständigengutachten eingeholt und sich mit dessen Ergebnissen eingehend auseinandergesetzt, ebenso wie mit früheren Gutachten und der Entwicklung im Verlauf des Vollzuges. Das Gutachten ist nicht offensichtlich unzureichend, so daß eine Verletzung des Gebotes bestmöglicher Sachaufklärung nicht erkennbar ist Die vom Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen fachlichen und methodischen Einwendungen unterliegen im Einzelnen nicht der verfassungsgerichtlichen Prüfung.

Hinsichtlich der Gewährung von Vollzugslockerungen beschränken sich die angegriffenen Entscheidungen gerade nicht auf einen pauschalen Hinweis auf die fehlende Bewährung im Rahmen von Vollzugslockerungen, wie der Beschwerdeführer meint, sondern werten die ausstehende Bewährung im Rahmen von Lockerungsmaßnahmen lediglich als einen Gesichtspunkt im Rahmen der Gewichtung der Rückfallgefahr. Für die Zukunft weisen beide Entscheidungen unmißverständlich darauf hin, daß Lockerungen zu gewähren sein werden, sobald dies der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers erlaubt. Die Rechtsmäßigkeit der Verweigerung von Vollzugslockerungen in der Vergangenheit ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens; die Behauptung des Beschwerdeführers, in dem dafür vorgesehenen Verfahren sei erfahrungsgemäß die Gewährung von Lockerungen nicht zu erreichen, entbehrt der Substanz.

Im übrigen sind die einzelnen Erwägungen der angegriffenen Entscheidungen nachvollziehbar und in sich schlüssig; es ist nicht erkennbar, daß sich die Gerichte des besonderen Gewichts des Freiheitsgrundrechts nach 26 Jahren Haft und nach Ablauf der Mindestverbüßungsdauer nicht bewußt gewesen wären. Die in der Verfassungsbeschwerde angeführten Gesichtspunkte werden sämtlich in den Gründen der angegriffenen Entscheidungen angesprochen und gewürdigt. Die Abwägung kann im Ergebnis wegen der nach den Feststellungen der Gerichte nach wie vor bestehenden Gefahr der Begehung von schwerwiegenden Körperverletzungsdelikten aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht als unvertretbar angesehen werden.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


III. Anmerkungen

Der Rechtsstaat verdankt dem Bundesverfassungsgericht viel. Immer wieder korrigiert "Karlsruhe" fachgerichtliche Mißgriffe und mahnt die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Mindeststandards an. In einer kaum noch zu überblickenden Anzahl von Fällen hat sich das Bundesverfassungsgericht veranlaßt gesehen, in Strafverfahren berichtigend einzugreifen, gleichviel ob es sich um Durchsuchungsanordnungen, Haftbefehle oder strafvollzugs- und strafvollstreckungsrechtliche Entscheidungen gehandelt hat. Ohne Ansehen der Person und der "Wichtigkeit" des Prozesses steht es den Kleinen wie den Großen, den Mächtigen wie den Ohnmächtigen bei. Konsequent achten die Verfassungsrichter auf die Einhaltung der Grundsätze des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit. Floskelhafte fachgerichtliche "Scheinsubsumtionen", die sich darin erschöpfen, die verfassungsrechtlichen Maßgaben aufzuzeigen ohne diese auch konsequent umzusetzen, haben vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand. In einer Vielzahl von Fällen hat das Bundesverfassungsgericht eine oberflächliche Prüfung des Sachverhalts und der Rechtslage durch die Fachgerichte und damit eine Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) zu beanstanden.

Um so bedauerlicher ist es, daß der vorliegende verfassungsgerichtliche Beschluß selbst den Anschein einer oberflächlichen Bearbeitung und einer "Scheinsubsumtion" vermittelt.

Mitunter entsteht beim Studium gerichtlicher Entscheidungen der Eindruck, sie seien der falschen Akte zugeordnet worden, weil sie keinen Bezug zu dem vorgetragenen Sachverhalt aufzuweisen scheinen. Aufgrund der gewöhnlich ausnehmend sorgfältigen Arbeit der Karlsruher Richter und der ihnen zuarbeitenden hochqualifizierten wissenschaftlichen Mitarbeiter war dies bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lange Zeit nicht zu besorgen. In den vergangenen Jahren sah sich das Bundesverfassungsgericht wegen vermeintlicher Nachlässigkeiten in der Sachbearbeitung jedoch wiederholt ungewohnt heftiger Kritik ausgesetzt (vgl. z.B. Foth, NStZ 2004, 337, 2005, 457; Hauschild, NStZ 2005, 339). So konstatierte Foth, ehemals Richter am Bundesgerichtshof, die Überlastung des Bundesverfassungsgerichts müsse enorm sein, sonst würden Richter, die man kennt und schätzt, solche "Elaborate" eines wissenschaftlichen Mitarbeiters nicht unterschreiben (NStZ 2005, 457). Auch der vorliegende Beschluß erweckt den Eindruck, ein Produkt der Blocksatzdatenbank eines überlasteten wissenschaftlichen Mitarbeiters zu sein.

Daß die Entscheidung unter Ziffer 1. a) auf "Straftaten [...] wie [...] Mord (§ 211 StGB)" abstellt, die mit "lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht" seien, obgleich der Beschwerdeführer "nur" wegen Totschlags verurteilt ist, ein Straftatbestand, der die lebenslängliche Freiheitsstrafe nicht absolut, sondern nur für besonders schwere Fälle androht, mag für sich genommen noch nicht als unrichtig, sondern nur als unpräzise angesehen werden. Hingegen deutet der unter Ziffer 2. der Entscheidung gegebene sehr veraltete Literaturhinweis auf die 52. Auflage des Strafgesetzbuchkommentars von Tröndle/Fischer (aktuell: 55. Auflage) darauf hin, daß die Entscheidungsgründe nicht für den konkreten Einzelfall formuliert, sondern aus früheren Entscheidungen übernommen worden sein könnten.

Von diesen Äußerlichkeiten abgesehen, erscheint inhaltlich die Behauptung wenig nachvollziehbar, die angegriffenen Entscheidungen wiesen "unmißverständlich" darauf hin, daß Lockerungen zu gewähren seien, sobald dies der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers erlaube. "Unmißverständlich" ist im besten Falle übertrieben, tatsächlich jedoch grob unrichtig. Der angegriffene Beschluß des Landgerichts verhält sich zu Vollzugslockerungen überhaupt nicht; zumal nicht im Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand des Beschwerdeführers. Vielmehr gibt das Landgericht lediglich die Einschätzung des Sachverständigen wieder, wonach der Eintritt in sukzessive Vollzugslockerungen gerechtfertigt sei. Ob die Strafvollstreckungskammer diesen Standpunkt teilt, läßt sich dem angefochtenen Beschluß nicht entnehmen. Jedenfalls scheint das Landgericht die Gewährung von Lockerungen an "Vorleistungen" des Beschwerdeführers knüpfen zu wollen, die im Hinblick auf den körperlichen und geistigen Verfallszustand in Folge von Krankheiten und mittlerweile fast 27-jähriger Haftdauer nicht erwartet werden können. Im übrigen sind Einschätzungen der Strafvollstreckungsgerichte hinsichtlich der Gewährung von Vollzugslockerungen im Rahmen einer Entscheidung über die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe für die Vollzugsanstalt nicht verbindlich, worauf die Vollzugsbehörden immer wieder hinweisen, wenn sie mit entsprechenden gerichtlichen "Empfehlungen" konfrontiert werden. Die prozessualen Möglichkeiten der Fachgerichte sind aber nicht auf Empfehlungen beschränkt. § 454a Abs. 1 StPO gestattet dem Gericht, einen künftigen Entlassungszeitraum so festzulegen, daß der Vollzugsbehörde noch die Möglichkeit bleibt, die Entlassung durch Vollzugslockerungen vorzubereiten (BVerfG, NJW 1998, 2202, 2203). Ausdrücklich war das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf eine aktuelle Stellungnahme der JVA, in der der Beschwerdeführer einsitzt, auf diese Problematik und die fehlende Auseinandersetzung der Fachgerichte mit diesen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen worden. Der Bearbeiter erkannte in diesem Vortrag keine Substanz, versperrte sich dem Offensichtlichen und dem vom Bundesverfassungsgericht selbst bereits thematisierten Problem (a.a.O.).

Auch das Oberlandesgericht hat entgegen der Annahme des Bundesverfassungsgerichts nicht "unmißverständlich" darauf hingewiesen, daß Lockerungen zu gewähren seien, sondern lediglich ausgeführt, daß Vollzugslockerungen "unerläßlich" seien, "um in eine Prüfung der bedingten Entlassung" eintreten zu können. Durch eine Erprobung des Verurteilten im Rahmen von Lockerungen, in der er sich bewähren könne, "wäre", so das Oberlandesgericht, dann eine neue Einschätzung der Legalprognose möglich. Hierin ist indessen keine für die Haftanstalt verbindliche Vorgabe zu sehen. Das Oberlandesgericht sieht die vorherige Gewährung von Lockerungen - gerade entgegen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (StV 2003, 677) - als notwendige Bedingung für den Eintritt in die Prüfung einer bedingten Entlassung an, nicht als - ohnehin unverbindliche - Maßgabe für künftiges Handeln des Vollzugsbehörde. Illusorisch erscheint es, die Vollzugsbehörde könne sich durch diese vagen, eher einschränkenden als fordernden Ausführungen gedrängt sehen, Vollzugslockerungen zu gewähren. Diese in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck kommende Hoffnung geht an der Vollzugsrealität vorbei. Tatsächlich sind trotz dieser angeblichen "unmißverständlichen" Ausführungen, die das Bundesverfassungsgericht den angegriffenen Entscheidungen entnehmen will, bis heute (Stand: September 2008) keine Lockerungen gewährt worden. Vielmehr wurde der Freiraum des Beschwerdeführers in der Krankenstation, angeblich aus Personalnot, weiter eingeengt. Das Landgericht Kassel lehnte es trotz der vom Bundesverfassungsgericht erkannten "unmißverständlichen" Fürsprache zugunsten von Vollzugslockerungen ab, im Rahmen einer Eilentscheidung anzuordnen, den vorherigen Zustand wiederherzustellen (Beschluß vom 11.04.2008, 4 StVK 94/08).

Fast zynisch muß es aus Sicht des schwerstkranken Beschwerdeführers erscheinen, wenn ihm durch den Senat entgegengehalten wird, Lockerungen seien ausweislich der fachgerichtlichen Entscheidungen zu gewähren, wenn sein Gesundheitszustand es erlaube. Diese Einschränkung haben nicht einmal die Fachgerichte in ihren Entscheidungen gemacht. Wer entscheidet, ob der Gesundheitszustand des Gefangenen, der selbstverständlich Lockerungen wünscht und sie sich gesundheitlich zutraut, z.B. in Form einer begleiteten Ausführung (ggf. auch im Rollstuhl), eine solche Maßnahme "erlauben"? Der sich seit zwei Jahrzehnten kontinuierlich verschlechternde und nicht besserungsfähige Gesundheitszustand war im Hinblick auf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerade Anlaß, die Verfassungsbeschwerde zu erheben. Der Senat dreht den Spieß - offenbar ohne die angegriffenen Entscheidungen und die Verfassungsbeschwerde hinreichend sorgfältig studiert zu haben -, um, und hält dem Beschwerdeführer entgegen, zunächst solle sich sein Gesundheitszustand bessern, dann könne er auch auf Lockerungen hoffen.

Die Annahme, es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, es bedürfe nicht einmal, wie in anderen Fällen, eines Korrekturhinweises des Verfassungsgerichts im Rahmen eines obiter dictum, wenn ein Mitglied der Rechtsgemeinschaft - wenn auch ein verurteilter Totschläger - 26 Jahre lang das Gefängnis nicht verlassen konnte und 23 Stunden am Tag auf seinen Haftraum in der Krankenstation beschränkt ist, ist mit der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts in vergleichbaren Fällen nur schwer in Einklang zu bringen.

Der Auffassung des Senats, das Ergebnis der von den Fachgerichten vorgenommenen Abwägung könne im Ergebnis wegen der nach den Feststellungen der Gerichte nach wie vor bestehenden Gefahr der Begehung von schwerwiegenden Körperverletzungsdelikten aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht als unvertretbar angesehen werden, ist nur das Resümee aus dem Gutachten des Sachverständigen entgegenzuhalten, der im Hinblick auf den desolaten Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ausführte:

    "In Anbetracht der Entwicklung des Täters in den letzten 25 Jahren und der schwerwiegenden, ihn erheblich beeinträchtigenden Krankheiten ist es durchaus möglich, daß er als Pflege- und Sozialfall nach einer Haftentlassung keine Straftaten mehr begehen wird. [...] Eine Entlassung ohne vorherige Lockerung/Erprobung kommt unter Umständen aus Verhältnismäßigkeitsgründen oder humanitären Erwägungen (Gnadenentlassung) in Betracht, aber das liegt außerhalb der Sachkunde eines Sachverständigen, sondern im Ermessen der Justiz oder der Politik."

Tatsächlich erscheinen die Feststellungen der Fachgerichte, von dem Beschwerdeführer gehe weiterhin die Gefahr schwerwiegender Körperverletzungen aus, im Hinblick auf dessen körperlichen Verfallszustand und der diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen kaum verständlich. Dies alles wurde dem Bundesverfassungsgericht in einer 50 Seiten umfassenden Sachdarstellung nebst 68 Anlagen substantiiert vorgetragen.

Die Ausführungen des Verfassungsgerichts wären für den Gefangenen leichter zu verstehen und aus anwaltlicher Sicht besser vermittelbar, entspräche es einer durchgängig "harten Linie" der Rechtsprechung, verurteilten Totschlägern und Mördern in Ansehung ihrer unsäglichen Taten stets nur ein Minimum an Freiräumen und Hoffnung zuzubilligen, sie de facto auf Gnadenentscheidungen zu beschränken und sie ungeachtet ihrer persönlichen Situation im Wortsinne "lebenslänglich" büßen zu lassen. Schwer erträglich ist jedoch, daß die abstrakten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Vollstreckung und Ausgestaltung einer lebenslangen Freiheitsstrafe Hoffnungen wecken, die in der Praxis nicht erfüllt werden und damit nur noch akademischen Wert für juristische Studienseminare haben.

Aufgrund der ungewohnt deutlich gegen den Beschwerdeführer gerichteten Formulierungen, mit denen der Senat dessen Vorbringen und Rechtsauffassungen zurückweist, werden sich die Fachgerichte in zukünftigen Prüfungsverfahren kaum veranlaßt sehen, ihre bisherigen Standpunkte einer Revision zu unterziehen. Der Beschwerdeführer ist damit auf weitere Jahre hin ohne jede realistische Aussicht, auch nur eine Hafterleichterung zu erwirken, während andere Verurteilte, die wegen noch schwererer Verbrechen verurteilt worden sind, zumindest erhebliche Privilegien im Vollzug genießen (vgl. BVerfG, NJW 2007, 1933).

Es besteht kein Zweifel, daß der Beschwerdeführer durch seine Tat schwere Schuld auf sich geladen hat, deren Ausmaß jedoch beispielsweise nicht an Fälle von Mehrfachtötungen, die als Mord zu qualifizieren sind, heranreicht (vgl. z.B. die Fälle BVerfG, NStZ 1996, 53 - zwölf vollendete und versuchte Sexualmorde; BGH, NStZ 2003, 146 - dreifacher Mord; OLG Karlsruhe, MDR 1991, 893 - achtfacher Mord; OLG Frankfurt, NJW 1986, 598 - KZ-Mörder; OLG Hamm, NStZ 1986, 315 - KZ-Mörder). Gleichwohl wird gegen den schwerkranken Beschwerdeführer bereits fast doppelte solange eine Freiheitsstrafe vollstreckt, wie dies bei "gewöhnlichen" Mördern der Fall ist, ohne daß ihm in Hinblick auf die Dauer der Vollstreckung und seinen Gesundheitszustand die geringsten Hafterleichterungen gewährt werden.

Die Rechtsgemeinschaft kann sich glücklich schätzen, mit dem Bundesverfassungsgericht eine Institution zu haben, die trotz erheblicher Arbeitsbelastung fast durchgehend qualitativ hochwertige Entscheidungen produziert, die dem Mandanten auch dann vermittelbar sind, wenn sie - wie in der Mehrzahl der Fälle - nicht dessen naturgemäß hochgesteckte Erwartungen erfüllen, Es ist bedauerlich, daß sich der Beschluß vom 29. Mai 2008 nicht in diese Reihe einfügt und die vom Bundesverfassungsgericht geforderte konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance, der Freiheit vor dem Beginn eines von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrestes wieder teilhaftig zu werden (BVerfG, NStZ 1994, 53, 54), auf eine Leerformel reduziert.

Rechtsanwalt Frank Löwenstein






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